15. Januar 2019

«Wenn etwas unserem Glück im Weg steht, dann sollten wir den Mut zu radikalen Entscheiden haben»

Radikaler Minimalismus und digitales Nomadentum – ist das eine weitere Form von Selbstoptimierung? Oder einfach eine Überlebensstrategie im Zeitalter des Überflusses an Dingen und Daten? Die swissICT Redaktion hat mit Cédric Waldburger, einem radikalen Minimalisten und Digital-Unternehmer, gesprochen.

Statussymbole haben für viele ihre Kraft verloren. Das Bedürfnis, sich von Unnützem zu befreien, kennen deshalb immer mehr Menschen in den Industrieländern. Sie leiden an zu viel Information, an zu vielen Dingen und an zu wenig Zeit fürs Wesentliche. Litten oder leiden Sie auch darunter?

Cédric Waldburger: In meinem Fall war der Wendepunkt so, dass ich auf einer meiner Businessreisen von New York nach Amsterdam nur via Zürich flog wegen meiner damaligen Wohnung in der Schweiz. Ich dachte mir danach: «Es macht doch keinen Sinn, dass ich mein Leben und meine Lebenszeit rund um Dinge und Statussymbole organisiere zulasten der Effizienzoptimierung.» Ich entschied mich für die Radikalität, gab meine Wohnung auf und reduzierte meinen Besitz auf den Inhalt meines Rollkoffers bzw. letztlich meines Rucksacks. Dinge sollten für uns da sein
und nicht umgekehrt.

Sie besitzen offiziell nur noch 64 Gegenstände. Was würden Sie denn auf die einsame Insel mitnehmen?

Alles, was auf meinem Inventar steht, hat nur noch einen pragmatischen Wert – jedoch keinen emotionalen. Viele funktionelle Dinge helfen mir vor allem bei meiner grossen Reisetätigkeit. Sie sind Mittel zum Zweck meiner übergeordneten Ziele zum Glück. Es ist letztlich eine Kombination von Technologie und immer noch grossem Anteil von Kleidung. Wenn ich auf der einsamen Insel arbeiten wollte, dann würde ich mein Notebook und mein Smartphone mitnehmen, ansonsten meinen Fotoapparat.

Weil Sie Ihren ganzen Besitz immer bei sich tragen, sind Sie sehr frei und dadurch uneingeschränkt laufend in Bewegung. Könnten Sie sich das auch vorstellen ohne Ihre digitalen Helfer, das Internet und künftig die Bots?

Einen Grossteil meines Tages verbringe ich mit Denken und damit, mit anderen Menschen oder meinen Teams zu kommunizieren. Ohne Technologie wäre Letzteres viel schwieriger. Das Internet hat einen grossen Einfluss darauf, dass mein Leben so funktioniert.

Sind der radikale Minimalismus und Selbstoptimierung ein möglicher Weg zur 2000-Watt-Gesellschaft? Oder ist Ihr jetziger ökologischer Fussabdruck aufgrund der hohen Reisetätigkeit und Digitalisierung doch eher hoch?

Ich fliege momentan zu viel. Das liegt vor allem daran, dass ich noch an sehr vielen Projekten gleichzeitig beteiligt bin. Ein Ziel meiner weiteren Selbstoptimierung ist, mich auf weniger und letztlich nur noch ein Projekt zu konzentrieren. Damit wird auch die Anzahl der Reisen stark sinken. In Gedanken an unsere Umwelt erstrebe ich auch, meinen persönlichen Abfall weiter zu reduzieren und den Konsum unverpackter Artikel zu steigern.

Die Automatisierung und geänderte Jobprofile können zu Personalabbau oder einer internen Restrukturierung führen. Die Digitalisierung führt jedoch auch zu neuen Jobs. Was sind Sie eher – Pessimist oder Optimist?

Ich bin Optimist: Jede Veränderung ist auch eine Chance. Der Fortschritt kann nicht aufgehalten werden. Was neu ist, ist die Geschwindigkeit, mit der sich die Welt verändert, und das stellt uns vor neue Herausforderungen. Wenn man diese jedoch als Chance sieht, wird man auch in Zukunft immer Jobprofile finden. Temporär wird es negative Auswirkungen auf gewisse Bereiche geben. Insbesondere da, wo ganze Tätigkeitsfelder durch Maschinen abgelöst werden. Wir sollten Lösungen schaffen, die jedem Menschen helfen, stets weiter zu

lernen und sich zu entwickeln. Die Idee von Lifelong Learning ist auch nach dem jugendlichen Status als «Lernender» unumgänglich für den Bestand im künftigen Leben und in der Wirtschaft. Unserer
Psyche und dem Dasein als Mensch tut es gut, stets zu lernen.

Denken Sie, dass die Digitalisierung ein Umdenken der Gesellschaft hervorbringen wird? Wird sich der minimalistische David behaupten können gegen den konsumgetriebenen Goliath?

Meine persönliche Erfahrung ist, dass sich Digitalisierung und Minimalisierung gut vertragen, aber nicht im Doppelpaket vorhanden sein müssen. In meiner derzeitigen Lebensphase geht es mir sehr gut mit minimalem Besitz. Es ist der richtige Lebensstil für mich. Ich bin mir aber bewusst, dass andere Menschen mit meinem Lebensstil todunglücklich sein könnten – gestresst von dem vielen Reisen und ohne fixes Zuhause. Deshalb versuche ich auch niemanden zu weniger Besitz zu überreden. Ich denke, was uns allen guttut, ist Bewusstsein: Bewusst zu hinterfragen, warum wir so leben, wie wir’s tun, und ob es uns glücklich macht. Und wenn wir merken, dass etwas unserem Glück im Weg steht, den Mut zu radikalen Entscheiden und Änderungen zu haben.

Sehr oft werden wir verführt oder abgelenkt durch die Konsumgesellschaft. Ich denke, es tut uns allen gut, erst mal durchzuatmen und uns zu fragen, ob wir etwas wirklich brauchen – bevor wir bei einem Schnäppchen zuschlagen.

Wird es in Zukunft irgendwann einen sesshafteren Cédric Waldburger geben?

Ich bin verlobt und heirate im Sommer. Mein Ziel ist es nicht, möglichst viel zu reisen, sondern in möglichst vielen interessanten Projekten wachsen und lernen zu können. Mit der Eröffnung eines Offices in Zürich und der Konzentration auf ein Projekt – DFINITY – wird sich meine Reise­tätigkeit ganz normal etwas legen. Vielleicht bedeutet das auch, dass ich sesshafter werde. Trotzdem werde ich nicht anfangen, Sachen anzuhäufen: 64 Sachen sind alles, was ich brauche, und ich geniesse die Freiheit, die mir so wenig Besitz gibt. Jeden Tag happy aufzustehen und happy einzuschlafen, ist letztlich meine Maxime.

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